Schon in den frühen Abendstunden meidet, wer kann, der gewöhnliche
Tel Aviver die Gegend um den Zentralen Busbahnhof im Südteil der Stadt. Obwohl
die Billiggeschäfte der Gegend noch geöffnet haben, zieht es jeder vor, aus dem
Stadtbus direkt in den Busbahnhof zu marschieren und so wenig wie möglich auf
die Umgebung zu achten. Abends wagt sich kaum mehr jemand von außen in die
Stadtteile Neve She’anan und Yad Harutzim. Dann gehört dieser Ort voll und ganz
den Junkies, ukrainischen und
deutschen Prostituierten, Strichern, Transvestiten und meist illegalen Gastarbeitern
aus Afrika, Rumänien oder Russland. Die Menschen sehen nach schlechten Drogen
und ungesundem Sex aus.
Der Fotograf Tobias Kruse besuchte diesen Ort. Mit seinen
Fotoessays versucht er neben dem politischen Ereignis stets auch die komplexe
gesellschaftliche Wirklichkeit darzustellen. Seine Arbeiten setzen sich
regelmäßig mit dem Nahen Osten auseinander. Zuletzt erschien eine große
Reportage im Zeit Magazin über das Schicksal von schwulen palästinensischen
Flüchtlingen in Tel Aviv.
Seine Fotos sind in der Ausstellung "Über
Grenzen", im Haus der Kulturen der Welt, zu sehen. Sie sind intim, nackt
und anzüglich. Am alten Busbahnhof hat er das Leben mit der Kamera so
eingefangen, wie es ist. Abgefuckt. Man läuft über Spritzen und Kondome. Und dennoch
ist das Bild einer halb nackten, dünnen, jungen Frau, deren Rock herunterhängt
und selbstbewusst mit beiden Unterarmen an einen Bretterverschlag lehnt, das
einzige Bild der ganzen Ausstellung, auf dem ein Mensch lacht und glücklich zu
sein scheint, wenigstens für diesen einen Augenblick.
Eine Grenze beschreibt etymologisch einen Trennwert, eine
Trennlinie oder –fläche. Grenzen können geometrischer, geografischer,
wirtschaftlicher oder politischer Kultur sein. Auch das Gewissen kann als
Grenze des Handelns agieren. Grenzen sind meist klar definiert und in der Lage
Lebewesen einzuschränken. Sie begrenzen die Freiheiten. Manche Menschen
überschreiten Grenzen und bringen sich dadurch in Gefahr. Das überschreiten von
Grenzen kann sie sowohl in eine physische als auch in eine psychische Gefahr
bringen.
Für die Ausstellung "Über Grenzen" haben neben
Tobias Kruse17 weitere Fotografen das Land verlassen und nach neuen Grenzen
gesucht. Sie haben reale Barrieren wie die in Belfast zwischen Protestanten und
Katholiken gefunden oder die EU-Außengrenze. Sie machen die Grenzen sichtbar,
die nicht aus Mauern und Polizisten bestehen, sondern in der Ausgrenzung,
beispielsweise Roma, die in Südosteuropa immer Außenseiter bleiben. Oder die
Chinesen, die in der italienischen Textilstadt Prato die Betriebe übernommen
haben und von der einheimischen Bevölkerung abgelehnt werden.
Tobias Kruse sagt: "Es
geht um körperliche Grenzen, es geht um gesellschaftliche Grenzen, um
Ausgrenzung, denn es ist ganz klar ein Ort, wo man nicht hingeht, und die
Leute, die da leben, hausen, zur 'Gesellschaft' auf jeden Fall nicht gehören.
Es leben dort viele Illegale und tatsächlich auch viele Palästinenser, die -
wenn sie gefasst werden - auch sofort zurück transportiert werden in die
Westbank."
By VL/ Michael Oehme
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